Wo stehen wir nach beinahe einem Jahr Corona-Krise?

In der Abschlussveranstaltung der Ringvorlesung zur Pandemie trafen sich unsere ExpertInnen aus Disziplinen wie Soziologie, Geschichts-, Wirtschafts- und Arbeitswissenschaften, sowie der Psychologie, um ihre Hypothesen erneut kurz vorzustellen und die aktuelle Situation aus ihrer Sicht zu bewerten: Welche Entwicklungen werden uns erhalten bleiben? Wie sind die Reaktionen von Gesellschaft und Politik auf die Corona-Krise zu bewerten? Welche Strategien helfen bei der psychischen Bewältigung? Wie ist die Entgrenzung von Privatleben und Arbeitswelt zu bewerten und welche Folgen ergeben sich z.B. für InteressensvertreterInnen und Führungskräfte?

Neue Ansätze für kollaborative Forschung

In der Diskussion zeigte sich, dass viele WissenschaftlerInnen sich einig darin sind, dass die Corona-Krise in Bezug auf viele Entwicklungen, wie z.B. die Digitalisierung, soziale Ungleichheit, etc. nicht als Wendepunkt zu betrachten ist, sondern viel mehr als Katalysator, der viele bestehenden Trends beschleunigt. Dr. Stefan Müller vom Archiv der sozialen Demokratie verglich die Reaktionen und die Umstände der spanischen Grippe zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der aktuellen Corona-Krise und fand überraschend viele Parallelen. Eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit konnte Prof. Dr. Heinze vom Lehrstuhl für allgemeine Soziologie beobachten. Während der Lockdown und der reduzierte Konsum einen großen Druck auf die Wirtschaft und damit auf viele Unternehmen ausübt, könnte man zu dem Schluss kommen, dass viele von ihnen mit Innovationen reagiert haben und zum Teil ihr Geschäftsfeld erweitert haben. So haben z.B. Brauereien Desinfektionsmittel hergestellt, oder liefern Cafés nun ihr Frühstücksmenü direkt zum Konsumenten. Doch ließ sich auch beobachten, dass geplante Investitionen in Forschung und Entwicklung während der Corona-Krise abgenommen haben, berichtete Prof. Dr. Marianne Saam vom CEIT.

Gobale Lieferketten: Ein wunder Punkt der Wirtschaft

Zu Beginn der Corona-Krise brachen die globalen Lieferketten zusammen und offenbarten, wie abhängig viele Volkswirtschaften inzwischen vom Import zentraler Waren sind. Es entstand beispielsweise ein Engpass bei Schutzmasken und -kleidung , produziert werden sie fast ausschließlich in China; Europa saß auf dem Trockenen. Prof. Dr. Michael Roos vom Lehrstuhl für Makroökonomik ging den Ursachen für diese Diskrepanz nach und machte die Effizienzorientierung unseres Wirtschaftsmodells verantwortlich: effizienter und vor allem billiger zu produzieren hat oberste Priorität. Wünschenswert wäre ein Umdenken zu einer Resilienzorientierung, in der die Wirtschaftssysteme krisenfest und langfristig ausgelegt wären. Dies würde auch die massive Ausbeutung von Arbeitskräften in produzierenden Ländern beeinflussen, von denen Dr. Christoph Sorg vom Institut für Soziale Bewegungen berichtete. Die WissenschaftlerInnen zeigten sich hier jedoch wenig optimistisch, zeigt der Umgang mit z.B. dem Klimawandel doch, wie wenig sich eine nachhaltige Wirtschaft durchzusetzen scheint.

Die Corona-Krise für den Einzelnen: Home-Trainer und Home-Office

“Wann machen die Friseure wieder auf?” Dies war laut Google die wichtigste Wann-Frage, die wir im letzten Jahr gestellt haben. Vielleicht war dies ja auch der Bundesregierung bekannt, weswegen dieser Zunft auch ein Vorzug bei den Öffnungen ab dem 01.03. gegeben wurde. Prof. Dr. Annette Kluge vom Lehrstuhl für Wirtschaftspsychologie bot in ihrem Vortrag einen Einblick in das Konsumentenverhalten während der Corona-Krise und zeigte auf, welche Mechanismen dem Einzelnen helfen, mit der Unsicherheit im Alltag umzugehen. Eine Erfahrung, die viele gerade teilen, ist die Verlagerung der Arbeit ins Home-Office. Wie können Führungskräfte ihr Team aus der Ferne leiten und ihren MitarbeiterInnen durch die Krise helfen? Welche Entgrenzungen erfahren ArbeitnehmerInnen derzeit und wie können InteressensvertreterInnen darauf reagieren? Prof. Dr. Manfred Wannöffel von der Gemeinsamen Arbeitsstelle RUB / IG Metall zeigte auf, dass es bereits viele Best Practice Beispiele und einzelne Tarifverträge und BVs gibt, die sich mit dieser entgrenzten Arbeit, allerdings unter anderen Bezeichnungen, befasst. Hier sieht er eine Aufgabe für die Wissenschaft, um die Begrifflichkeiten für diese Art der Arbeit zu schärfen und so die Debatte zu erleichtern.

Ausblick für die Forschung – Welche Aufgaben erfolgen nach der Corona-Krise?

Seit dem Start der Pandemie geistert ein Ted-Talk von Bill Gates aus dem Jahr 2016 durch die sozialen Netzwerke, in dem dieser vor einem Virus wie Covid-19 warnt, das sich angesichts heutiger Mobilität rasend schnell auf der Erde ausbreiten würde. Er zeigt darin genau auf, welche Maßnahmen wir ergreifen müssten, um für ein solches Szenario gewappnet zu sein. In vielen Bereichen zeigte sich, dass unsere Gesellschaft schlecht auf eine solche Krise vorbereitet war. Es fehlten Schutzausrüstungen, die Information der Bevölkerung gestaltet sich bis heute zum Teil schwierig und die Digitalisierung in den Schulen war und ist insbesondere in Deutschland ein Problem, das soziale Ungleichheit weiter forciert. In den USA sieht die Lage, angesichts fehlender sozialer Sicherungen, noch viel düsterer aus. Wie wird diese Erfahrung unsere Gesellschaft prägen? Wie können sich Gesellschaften besser auf unvorhergesehene Geschehnisse vorbereiten? Welche Schlüsse können und müssen aus den Erfahrungen mit der Corona-Krise erfolgen und können uns helfen, präventiv für die Zukunft vorzusorgen?

Die Aufarbeitung der Krise und daraus entsprechende Handlungsfelder zu entwickeln wird in den kommenden Monaten eine der wichtigsten Aufgaben der transdisziplinären Forschung sein. Die Akademie der Ruhr-Universität und die Gemeinsame Arbeitsstelle RUB / IG Metall streben eine gemeinsame Publikation zu dem Thema der Ringvorlesung an, in der u. a. oben gestellte Fragen mithilfe der Dozentinnen und Dozenten der Reihe bearbeitet und beantwortet werden sollen.

Das Video zur Abschlussveranstaltung finden Sie hier.

Sie würden sich gerne die Vorträge der einzelnen DozentInnen ansehen? Hier finden Sie die jeweiligen Links.